İstanbul/Theatersaal des Atatürk Kulturzentrums İstanbul
Serdar Yalçin/Orchester der Staatlichen Oper Istanbul
Ahmed Adnan Saygun: Yunus Emre, op. 26 (1942)
Die westliche Musik, so die These des musikbegeisterten Ägyptologen Jan Assmann anlässlich seines Wiener Gastvortrags, sei mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes „Weltmusik“ geworden, bedenkt man die globale Verbreitung des Phänomens, an deren Rezeption und Weiterentwicklung sich heute de facto alle Kulturkreise der Welt beteiligen. So radikal müsste man dabei nicht sein, um den eminenten Stellenwert der westlich-klassischen Musik in den außereuropäischen Konfigurationsversuchen der Moderne nicht nur mit ethnographischer Neugier, sondern auch aus genuin musikalischem Interesse zu betrachten. Über die russischen oder lateinamerikanischen Versuche der Inkorporierung westlicher Orchestermusik ist mittlerweile vieles bekannt. Weniger prominent scheint die Rezeption der europäischen Musik am Ende des Osmanischen Reiches, die mit Giuseppe Donizetti (auf Türkisch: Donizetti Paşa), dem Bruder des Gaetano, am Hof des Sultans Mahmud II. ihren Anfang fand und sich seitdem nicht in der bloßen Nachahmung und Bespielung des westlichen Repertoires erschöpft. Denn nach der Etablierung der Konservatorien zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden bereits die ersten Kompositionsstudenten nach Westeuropa schickt und es entstanden die ersten Symphonien und Nationalopern, die auch heute an einigen heimischen Opernhäusern zur Aufführung gelangen.
Neben Ulvi Cemal Erkin (dessen Köçekce als beliebtes Zugabestück des Borusan Istanbul Philharmonic unter Sascha Götzl westliche Konzertsäle erobert hat) steht der in İzmir geborene Vincent-d’Indy-Schüler Ahmed Adnan Saygun (1907–1991) an der Spitze jener Generation, die sich parallel zur russischen Gruppe der Fünf als die Türkischen Fünf formiert und den Weg in die national orientierte Moderne gewiesen hat. Dessen Oratorium Yunus Emre, op. 26 aus dem Jahre 1942, das allererste türkische Werk dieser Gattung, steht dabei nicht nur durch das Dirigat Leopold Stokowskis im Jahre 1958 vor der UNO-Generalversammlung in einem aufführungshistorisch bedeutsamen Kontext, sondern wurde vor allem durch die Verwendung der Zeilen des mystischen Nationaldichters des 13. Jahrhundert Yunus Emre zu einem national-identitätsstiftenden Meilenstein in der türkischen Musikszene.
Die aktuelle Aufführung durch das Orchester und den Chor der Staatlichen Oper Istanbul (İstanbul Devlet Opera ve Balesi Orkestra ve Korosu) im Theatersaal des in der vergangenen Woche vom London Philharmonic Orchestra feierlich eröffneten Atatürk Kültür Merzezi (Atatürk-Kulturzentrum) unter der musikalischen Leitung des Serdar Yalçin zeigt eindrücklich eine fruchtbare interkulturell inspirierte Amalgamation auf Basis westlicher Traditionen und türkischer Identität. Das in 13 Nummern, gruppiert in drei Hauptteilen und einer Überleitung, gegliederte Werk zeichnet mit vier Gesangssolisten und dem Chor den spirituellen Lebensweg des Dichters Yunus Emre nach, der ausgehend von der anfänglichen Reflexion über den Tod und Schicksal schließlich seinen Frieden in Gott findet. In der relativ orthodoxen Orchestrierung entfaltet sich eine originelle Klangsprache, die zahlreiche spätromantische bis moderne Idiome der damaligen Musikszene bruchstückhaft rezipiert, aber auch durchaus im Geiste Béla Bartóks, dessen Assistent Saygun während seiner Anatolien-Studienreise war, die eigentümlich türkischen Sprachmelodien einverleibt. Die mit einem Tritonusmotiv eröffneten düsteren Gedanken über den Tod führt über ein melismatisches Tenorsolo mit eigenem Makam (Modus der traditionell türkischen Kunstmusik), natürlich zahlreiche Quart- und Quintparallelen bis hin zu ungerade rhythmisierten tänzerischen Ausbrüchen, um schließlich Yunus Emre nach einer auf französischer Art von der Harfe begleiteten Modulation mit einem Choral in die friedliche Einheit mit dem Einen zu begleiten – also ein spannendes Potpourri an Einfällen, an denen sich der türkische Komponist mit wohldosiertem Geschmack bedient. Mitunter zu kurz fällt dabei – und das ist ein nicht uninteressantes globales Phänomen, das sich nicht nur auf die türkische Musikgeschichte beschränkt, sondern generell in außereuropäischen Komposition gehäuft zu beobachten scheint – eine längerfristig angelegte motivische Entwicklung oder die fortwährende thematische Durchzogenheit, durch die sich die westlich sensibilisierte Formenlehre auszeichnete, oft zugunsten des fragmentarischen und des repetitiven Moments. Bis auf kurze fugierende Passagen fehlen ebenso wirkliche handwerkliche Höhepunkte, an denen sich ein westlicher Oratorienkomponist messen ließe. Dennoch ist der etwas bruchstückhafte Beigeschmack insgesamt letztlich vorzüglich in einem kurzweiligen und vor allem den tonalen Raum nie wirklich verlassenden Zusammenhalt aufgehoben, der dabei geschickt auf zu vulgäre Zitationsverarbeitung aus der Tradition verzichtet.
Was ebenso beeindruckt, ist die Glanzleistung des Dirigenten Serdar Yalçin, der mit seiner außerordentlich verständlichen Schlagtechnik das große Ensemble gekonnt zusammenhält. Jede dynamische und agogische Veränderung lässt sich aus seinen Gesten klar ablesen, seine offensichtlichen Bemühungen der Detailarbeit machen sich im Ergebnis hörbar, wenn auch von den Musikern oft aus technischen Gründen nicht immer ganz sauber ausgeführt. Das oftmalige Auseinanderdriften des Ensembles hat jedenfalls definitiv nicht er zu verantworten. Vom relativ großem Orchesterapparat besticht das ungemein musikalische Flötensolo sowie das brillante Trompetensolo, dem sicherlich auch in einem westeuropäischen Orchester ein verdienter Platz zustünde. Trotz des überaus zuverlässigen Blechs geben die Streicher den Eindruck, dass es an einheitlicher Technik mangelt, die eine homogene wie wuchtige Klangmasse zu erzeugen vermag. Eine kultivierte Spiel- und Klangkultur, die sich am ensembletechnischen Hinhören schult, wird mit dem kompetenten Chefdirigenten noch langfristig zu erarbeiten sein. Auch der Chor der Staatlichen Oper mit dem auffällig guten Tenören scheint von Volkan Akkoç nicht wirklich gut einstudiert (singt übrigens mit klangtötenden Masken, weshalb ich auf die Klangbeurteilung verzichte), verliert sich oft in polyphonen Passagen, und die Bässe haben mit massiven Intonationsproblemen von bis zu einem Halbton zu kämpfen, der Sopran mit extremer Inhomogenität der Technik; die meisten Probleme ließen sich aber eigentlich mit einer gezielten Einstudierung beheben.
Durchaus positiv hingegen sind die Leistungen der Gesangssolisten hervorzuheben: Die Sopranistin Özgecan Gençer, ehemals auch in Karlsruhe tätig, besticht durch ihre kernige und stabile Tongebung, die stets einen sicheren Halt bietet. Mezzosopranistin Nesrin Gönüldağ glänzt wunderbar in der Höhe, allerdings erst ab dem As‘, worunter ihr kein bruchloser Übergang im selben Klangvolumen gelingt. Es ist eher von einem Missverhältnis der Stimmlage zur eigentlichen Altrolle zu sprechen, das eher dem Komponisten anzulasten wäre, und von der Solistin kann man sich nur wünschen, in einer echten Mezzo-Rolle aufblühen zu sehen. Der Tenor Berk Dalkılıç hat eine beinahe baritonale kräftige Brillanz, die sich allerdings in die Höhen ab B erst durchzudringen hat. Lediglich der Bass Zafer Erdaş enttäuscht, seine Bemühungen sind mehr sicht- als hörbar, wofür sich allerdings auch hier wieder die vom Komponisten viel zu tief angesetzte Lage verantwortlich zeichnet.
Ob mit Ahmed Adnan Sayguns geläufiger Bezeichnung als „Türkischen Bartók“ nicht nur die musikhistorischen Kontexte, sondern sein Kompositionsstil exakt wiedergegeben ist, darf bezweifelt werden. Wohl ist die Orchestrierung zu unterkomplex und die Einfälle letztlich zu fragmentiert, als dass es einem durchdachten Kosmos eines Bartoks nahekäme. Und dennoch, so scheint es mir, ruft uns eine solche Aufführung erneut ins Bewusstsein, dass sich auch für uns nicht nur aus exotischem Interesse lohnt, den Facettenreichtum globaler Musikgeschichte umfassend nachzuvollziehen und zu rezipieren.
Kohki Totsuka, MA, mit Unterstützung von Damla Kanarya


Fotos: Kohki Totsuka